Der Spielfilm mit dem Titel ‚So viele Jahre liebe ich Dich’ von Philippe Claudel erschien in Frankreich im Jahr 2008. Ich sah den Film erst kürzlich und bin nachhaltig beeindruckt. An Aktualität hat die Geschichte, die von der „Stärke der Frauen, ihrer Fähigkeit zu strahlen, sich neu zu erfinden und wieder neu aufzuleben“, wie es der Regisseur und Drehbuchautor selbst formulierte, nichts verloren.
‚So viele Jahre liebe ich Dich’, ist eine Textzeile aus dem Titelsong des Films und bezieht sich auf die Beziehung der beiden Schwestern Juliette und Lea und ihre schwierige Liebe. Als Lea 13 Jahre ist, wird ihre ältere Schwester Juliette wegen einer Tat von den Eltern verstoßen und für tot erklärt. Als sich die Schwestern zu Beginn des Films wiedersehen, hat Juliette 15 Jahre Haftstrafe hinter sich und zeigt sich in sich gekehrt, wenig zugänglich und verschlossen. Sie ist vom neuen Leben in Freiheit sichtlich überfordert. Die Schwestern sind sich fremd geworden und finden erst langsam ihre Nähe aus Kindertagen wieder.
Dieser zweistündige Film ist nach Angaben des Regisseurs und Drehbuchautors das Ergebnis mehrerer Jahre Arbeit. Es handelt sich um einen Film mit leisen Tönen, vielen Untertönen und besonderem Tiefgang. Als Zuschauer dürfen wir den Protagonisten sehr nah kommen und sind eingeladen, das Geschehen auf mehreren Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven nach- und mitzuempfinden.
Wer die Filmgeschichte noch nicht kennt und sich die Story unvoreingenommen anschauen möchte, hört jetzt besser auf zu lesen. Philippe Claudel entwickelt die Ereignisse nach dem Zwiebelschalen-Prinzip in ganz kleinen Schritten. Erst am Ende des Films erfahren wir die ganze Wahrheit. Juliette, die ihre Haftstrafe wegen Mordes an ihrem 6jährigen Sohn verbüßte, hatte all die Jahre geschwiegen und ihr Geheimnis für sich behalten hatte.
Aus dem Gefängnis entlassen, wird Juliette von ihrer jüngeren Schwester Lea aufgenommen. Wir lernen Leas zwei kleine Töchter vietnamesischer Herkunft, ihren Mann Luc und den Großvater, der auch im Haus der Familie wohnt, kennen. Der Opa kann seit einem Schlaganfall nicht mehr sprechen, liest ununterbrochen seine Büchern und nimmt auf seine Weise interessiert am Familienleben teil. Lea ist Dozentin an der Universität und will ab nun ihre Freizeit gemeinsam mit ihrer Schwester verbringen. Die jüngere von den beiden Schwestern ist voll und ganz darum bemüht, der älteren zu helfen und sie beim Aufbau eines neuen Lebens zu unterstützen. Dabei wirkt Lea offen und vertrauensvoll im Gegensatz zu ihrem Mann Luc, der z.B. Angst hat, wenn Juliette allein mit den kleinen Mädchen Zeit verbringt. Luc misstraut seiner Schwägerin, ist stets beunruhigt und befürchtet Unheilvolles vom neuen Zusammenleben. Luc stellt auch unbequeme Fragen wie z.B.: „Warum hat sie das getan?“ und erwartet von seiner Frau, dass sie die Schwester konfrontiert. Er will klare Antworten.
Lea hingegen ist äußerst geduldig und einfühlsam. Sie will ihrer Schwester erst einmal Zeit und Geborgenheit geben, bevor sie Erklärungen einfordert. Intuitiv ist ihr klar, dass die Schwester sich nur langsam wieder an Menschen und das Leben mit seinen Anforderungen gewöhnen kann. Um sich von den traumatischen Erlebnissen zu erholen und wieder Vertrauen zu finden, braucht die Schwester unvoreingenommene Zuwendung und Freiraum ohne Druck.
Im Film wird die Entwicklung vom Entsetzen, den grausamen Erfahrungen und dem Unfassbaren hin zum Licht, zur Leichtigkeit und Fülle des Lebens sehr schön eingefangen und in Bildern und Stimmungen erzählt. Nicht beim ersten Anlauf, jedoch einige Bemühungen später findet Juliette Arbeit und kann sich eine eigene Wohnung mieten. Die beiden kleinen entzückenden Adoptivtöchter von Lea und Luc vertrauen ihrer Tante mehr und mehr, suchen ihre Nähe und lieben sie. Juliette findet zu ihrer Weiblichkeit zurück, was nicht unbemerkt von den Männern, mit denen sie in Kontakt kommt, bleibt. Juliette wird umworben und kann sich vorsichtig, punktuell öffnen, verhalten auf Nähe einlassen und im Verlauf der Zeit sogar ehrlich von sich und ihren Erfahrungen im Gefängnis sprechen.
Nach und nach finden die Schwestern zu ihrer Offenheit, dem Vertrauen, ihrer Zuneigung und der Intimität aus Kindertagen zurück. Sie lernen, das Grauen vollständig hinter sich lassen. Sie sind, unabhängig von dem, was in der Vergangenheit passierte und zu ihrer Trennung geführt hatte, überglücklich, sich wiederzuhaben. Mehr oder weniger zufällig wird das Geheimnis gelüftet. Die jüngste Tochter kommt mit einem Foto des verstorbenen Sohns ihrer Tante. Lea findet daraufhin einen Brief mit einem Gedicht des sechsjährigen, in dem der kleine Junge die Liebe zu seiner Mutter mit Worten ausdrückt. Juliettes kleiner Sohn war unheilbar krank, erduldete große Schmerzen, hatte schlimme Angstanfälle und kämpfte hart um sein Leben. Juliette, von Beruf Ärztin, gab ihm eine Spritze, nach der ihr geliebter Sohn eingeschlafen konnte und von seinem Leid erlöst war. Da sich Juliette für schuldig hielt, ein krankes Kind geboren zu haben, das nicht lebensfähig war und nicht älter werden konnte, schwieg sie. Auf alle Fragen, die ihr bei Gericht gestellt worden waren, hatte sie nicht geantwortet. Ihre Haftstrafe war selbst gewollt, weil Juliette der Meinung war, nichts und niemand könne ihr dabei helfen, ihr Leid, den Sohn verloren zu haben, zu lindern.
Im Film wird auf sehr respektvolle, der Thematik angemessene und dennoch leichte Art und Weise deutlich, wie menschliche Gemeinschaft, Geschwisterliebe, Familienleben, Freundschaft, Nähe mit Kindern oder Kollegen einen schwer traumatisierten, vereinsamten Menschen auffangen und dem Leben zurückgeben können. Aufmerksamkeit, Zuwendung, Offenheit, neues Leben, Zuversicht und Hoffnung sind die Kräfte, die das unmöglich Erscheinende möglich machen: Juliette strahlt am Ende des Films herzlich und hat ihre Lebensfreude wiedergefunden.
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Diesen Text schrieb Regine Chr. Göttert © – www.regine-goettert.de.