Kein Schweigen – kein Leiden, das nie endet

Morgen, am Mittwoch, den 12. Oktober, beginnt die diesjährige Buchmesse in Frankfurt. Das erinnert mich an eine äußerst bewegende Begegnung im letzten Jahr.

Eigentlich war ich reichlich erschöpft von einem langen Tag in den Messehallen mit unzähligen Eindrücken und Informationen. Ich suchte nur noch einen freien Stuhl, der mir dabei helfen sollte, mein Körpergewicht zu tragen. Den fand ich erleichtert am Stand der Zeitung „Die Zeit“ und bekam noch einen leckeren Kaffee dazu. Auf dem Tischchen neben mir lag das Veranstaltungsprogramm des Tages, auf das ich einen flüchtigen Blick warf. ‚Ingrid Betancourt ‘, gab anlässlich ihres Buches: „Kein Schweigen, das nicht endet“, was zur Buchmesse erstmals in deutscher Sprache erschienen war, ein Interview. Das machte mich neugierig. So blieb ich sitzen und wurde für meine Geduld mehr als belohnt.

Als Frau Betancourt – eine filigrane, attraktive und sympathisch wirkende Erscheinung – das Podium betrat, nahm mich ihre auffällige Ausstrahlung sofort gefangen. Es war direkt spürbar: Frau Betancourt umgibt ein besonderer Zauber. Mit einer Mischung aus Zartheit, Intelligenz, Freundlichkeit, Kraft, Würde, Stille und Bescheidenheit machte sie auf sich und ihre Geschichte aufmerksam.

Frau Betancourt war 41 Jahre alt, Mutter von 2 Kindern und Kolumbianische Präsidentschaftskandidatin, als sie auf dem Weg zu einer Wahlveranstaltung gekidnappt und von den Rebellen der Armee FARC über 6 lange Jahre im kolumbianischen Dschungel gefangen gehalten wurde. Bis zum Zeitpunkt ihrer Entführung waren mit ihrer Amtsübernahme große Hoffnungen auf eine Besserung der gravierenden Probleme dieses Landes verbunden.

Schon nach wenigen Minuten des Interviews, dass von einer einfühlsamen und respektvollen „Zeit“-Redakteurin geführt wurde, war für mich klar, dieses Buch lesen zu wollen. Auf über 700 Seiten lässt uns die Autorin an ihren unfassbaren und unvorstellbaren Erlebnissen teilhaben. Eigentlich vermeide ich es, Bücher von solchem Umgang zu lesen. Doch in diesem Fall passen die detailreichen Beschreibungen zu den Ereignissen und ihrer Dauer.

Frau Betancourt war in der bedrohlichen Umgebung des Dschungels ihrer Freiheit beraubt, entbehrte fast alles, was sie schätzt und liebt, war ausgeliefert und ohnmächtig, wurde gequält, misshandelt und gedemütigt und lernte im tiefsten Elend und Schmerz, kein Opfer zu sein.

In einer berührenden Sprache von hoher literarischer Qualität nimmt uns Frau Betancourt mit in ihre Vergangenheit, mit in den kolumbianischen Urwald, mit in ihre Innenwelt und lässt uns ihre Erfahrungen mit- und nacherleben. Wir dürfen ihren Entwicklungsprozess verfolgen und werden ins Vertrauen gezogen. Trotz all dieser schrecklichen Dinge, die ihr widerfahren sind, verschließt Frau Betancourt ihr Herz nicht, sondern versucht neben dem eigenen Empfinden auch die Sichtweisen und das Verhalten ihrer Geiselnehmer und Mitgefangenen zu verstehen.

Einerseits ist es unfassbar, was Menschen aushalten und ertragen können. Andererseits ist es erschreckend, in diesem authentischen Bericht zu erfahren, wozu Menschen fähig sind. Und doch urteilt Frau Betancourt nicht. Sie räumt ein, dass sich unter bestimmten Bedingungen und bei entsprechenden Einstellungen wahrscheinlich jeder derartig egozentrisch, grausam und sadistisch verhalten könne. Im Dschungel geht es um die existentiellen, einfachsten Dinge des Überlebens wie beispielsweise Essen, Ausscheiden, Körperpflege, genügend Raum für sich haben, Informationen erhalten, Gesellschaft und Zuwendung erfahren.

Frau Betancourt bringt es selbst am besten zum Ausdruck:
„Ich war um den Hals an einen Baum gekettet, man hatte mir alles genommen und ständig wurde ich gedemütigt – es hat Jahre gedauert, aber schließlich verstand ich, dass ich noch immer das Kostbarste besaß, etwas, das mir niemand nehmen konnte: die Freiheit, zu entscheiden, wer ich selbst war. Ich hatte die Wahl, zu hassen oder nicht zu hassen. Ich war kein Opfer mehr, ich war eine Überlebende.“

Ohne sich vor ihrer Geiselnahme als Politikstudentin in Paris und während ihrer Karriere als Politikerin in Kolumbien mit Spiritualität beschäftigt zu haben, kommt Frau Betancourt im Dschungel zu spirituellen Erkenntnissen. Die Liebe zu ihrer Mutter, von der sie über einen Radioempfänger Nachrichten empfangen kann und ihre Auseinandersetzung mit dem Göttlichen, geben ihr täglich die Kraft, den Horror zu ertragen.

Während des Interviews auf der Buchmesse – der Tag ihrer Befreiung durch die kolumbianische Armee liegt mittlerweile über 2 Jahre zurück – sagte Frau Betancourt, heute nicht mehr viel zu brauchen oder zu wollen. Sie freue sich zu leben, gesund zu sein und sei einfach nur glücklich und zufrieden, ihr Leben in Freiheit zu führen.

Ich bin dankbar und glücklich, dieser großartigen, liebevollen, starken und besonderen Frau begegnet zu sein. Mein großer Dank und meine tiefe Bewunderung gelten Frau Ingrid Betancourt, deren Schicksalsweg und Persönlichkeit mich zu Tränen rühren. Ich freue mich sehr, dass diese wunderbare Frau ihre Erlebnisse mit uns hautnah, offen und ehrlich teilt.

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