Die 6jährige Dahlia kommt frustriert aus der Schule und erzählt ihrer Mutter: „Wir haben Tonbandaufnahmen von Tieren gehört. Das erste war ein Summen. Alle haben sofort gerufen ‚eine Fliege‘. Ich habe überlegt, ob es eine Fliege, eine Hummel, eine Biene oder eine Hornisse sein könnte. Das zweite Geräusch war ein Brüllen. Alle riefen gleich ‚ein Löwe‘. Ich dachte, es hätte ein Tiger, ein Löwe, ein Bär, ein Leopard oder ein Puma sein können.“ Dahlia hatte bei den Aufgaben, die ihre Mitschüler mühelos bewältigten, versagt, weil sie viel zu differenzierte Überlegungen anstellte.
Nach Schätzungen sind 2 von 100 Menschen intellektuell hochbegabt und haben einen Intelligenzquotienten von 130 oder mehr Punkten. Vermutlich sind ca. 15 % der Gesamtbevölkerung Menschen mit Hochsensibilität. Was für die Betroffenen im Grunde eine besondere Begabung ist, stellt sich für viele, die zumeist gar nichts von ihrer überdurchschnittlichen Veranlagung wissen, oft als Problem dar.
Hochbegabte – unabhängig davon ob sich die Hochbegabung auf die intellektuelle oder emotionale Intelligenz oder besonders sensible Wahrnehmungsmöglichkeiten bezieht – sind anders als die meisten und leiden oft unter ihren Talenten und dem Gefühl, anders zu sein. Weil sie anders als die meisten sind, fühlen sie sich häufig unverstanden, was sehr verunsichern kann und Betroffene an sich zweifeln lässt. Erst wenn sie um ihre besonderen Fähigkeiten selbst genau Bescheid wissen, können sie sich in einem neuen Licht sehen. Eine Hochbegabte sagt es selbst mit ihren eigenen Worten am besten: „Endlich weiß ich, warum ich mich, seit ich denken kann, fremd gefühlt habe. Ich dachte, ich bin ein Alien.“ Verantwortlich für dieses Erleben von Fremdheit sind ihr überaus wacher und sprunghaft denkender Geist, eine besonders schnelle Auffassungs- und Kombinationsgabe und ihre Fähigkeit vernetzt und kreativ zu denken, Inhalte auf das Wesentliche zusammenzufassen sowie originelle Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Ihre Mitmenschen wie z.B. ihre Kollegen waren oft für derartige Originalität gar nicht aufgeschlossen.
Wenn Menschen mit Hochbegabung über ihre besondere Veranlagung Bescheid wissen und es ihnen gelingt, Bedingungen zu schaffen, in denen sie ihre Talente ausleben und sinnvoll einbringen können, führen sie ein spannendes und erfülltes Leben. Sind sie allerdings unter- oder überfordert, spielt ihr Nervensystem verrückt. Durch Überreizung, die besonders bei Hochsensiblen schnell über ihre intensiven und facettenreichen Sinneseindrücke entsteht, kommt es zu Dauerstress, was häufig mit psychosomatischen Symptomen wie z.B. Magen-Darm-Problemen, chronischer Muskelanspannung, Entzündungsneigung, Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen einhergeht.
Hochsensible haben ein ausgeprägtes Gespür für Atmosphärisches und können sich oft nicht gut abgrenzen. Kommen sie z.B. in einen Raum, in dem nach einem Streit dicke Luft ist, bemerken sie dies sofort, reagieren empfindlich, übernehmen die Anspannung und fühlen sich sofort unwohl. Menschenmassen, Gedränge, Lärm oder grelle Lichtquellen sind ihnen zumeist ein Gräuel.
Das Kunststück für die Betroffenen besteht darin, zu erkennen und zu verstehen, was es mit ihrer besonderen Begabung auf sich hat. Dann können sie lernen, mehr und mehr zu sich zu stehen; lernen, für ausreichend geistige Anregung zu sorgen; lernen, sich selbst besser zu schützen und lernen, ihr enormes Potential zu nutzen. Wenn Hochsensible berücksichtigen und darauf achten, mehr Zeit und Ruhe zur Verarbeitung ihrer umfangreichen, tiefgehenden Eindrücke zu benötigen, wirken sich ihre Talente förderlich für sie und andere aus. Ihr intuitives Wissen und ihre intensiven Gefühle wollen einsortiert und integriert werden. Dann erschließt ihnen ihre überdurchschnittliche Wahrnehmungsfähigkeit eine besondere Fülle im Leben.
Gelingt es intellektuell Hochbegabten und hochbegabt Sensiblen ihre Gaben in die richtigen Bahnen zu lenken, sind sie prädestiniert für Karrieren als Vordenker, Erfinder, Künstler und Berater. Ihre besondere Denkfähigkeit – auch in Bildern, vernetzt, intuitiv und fühlend zu denken – lässt sie komplexe Zusammenhänge erfassen und verstehen und außergewöhnliche Lösungen entwickeln.
Hilfreich für Betroffene ist der Kontakt mit Gleichgesinnten. Zeit mit anderen Hochbegabten und Hochsensiblen zu verbringen und sich auszutauschen, ist wohltuend, bietet wertvolle Impulse und fördert die Selbstakzeptanz.
Auch bei Beratungsbedarf oder Therapiewunsch fühlen sich Hochbegabte bei jemandem mit einer ähnlichen Veranlagung besser gesehen und verstanden und haben das Gefühl, wirkungsvolle Unterstützung zu bekommen.
Nicht zu vergessen ist, dass sich jeder bei bestimmten Themen besonders gut auskennt und schlauer als andere ist. Jeder kennt an sich auch Bereiche, in denen er besonders sensibel reagiert oder hat Tage, an denen er sich äußerst dünnhäutig und sehr empfindlich fühlt.
Wie geht es Ihnen? Mussten Sie sich schon als Kind anhören, viel zu empfindlich zu sein? Haben Sie sich durch umständliche Darbietungen und endlose Wiederholungen z.B. in der Schule gelangweilt und angestrengt gefühlt? Oder fühlen Sie sich eher genervt von Leuten, die das Gras wachsen hören und übertriebene Rücksichtnahme erwarten? Stresst es Sie, wenn Menschen Ihrem Empfinden nach ein viel zu hohes Tempo haben?
Teilen Sie Ihre Erfahrungen zum Thema Hochbegabung mit uns – wir freuen uns!
Liebe Frau Göttert,
ein schönes Beispiel, das Sie hier mit der kleinen Dahlia vorgestellt haben! Ich freue mich immer, wenn ein guter Artikel zu meinem Herzensthema erscheint.
Vielen Dank dafür und herzliche Grüße
Ulrike Juli Scheld